Bestes Beispiel für die Wandlung ist ‚Weite Landschaft’, der Opener und die erste Single. Es beginnt wie ein Frevert-Stück von früher, eine dieser aufrecht an der Liebe verzweifelnden Balladen – dann kippt’s, fällt auf die Füße und rennt los. ‚Fremd in der Welt’ (Frevert über Frevert?) ist ein Hit, ‚Waschbeckenrand’ eine Miniatur mit universeller Wucht, wie sie nur Frevert schreiben kann, das umwerfende ‚Träume hören nicht auf bei Tagesanbruch’ eine radioheadsche Elegie auf die Sehnsucht, das „Klappern von Geschirr’ die Fortsetzung von ‚Wind in deinem Haar’ von Putzlicht.
Mehr denn je richtet sich sein Blick auf das Weitermachen hinter den Fenstern der Großstadtwohnungen, in denen viele seiner Geschichten spielen – diese hochverdichteten Momentaufnahmen, in denen ganze Leben stecken. Freverts Lieder feuern nicht zum Durchhalten an, spenden keinen Trost und geben keinen Rat. Sie legen sanft den Finger auf die Wunde, da wo Träume verkümmern und Herzen verhärten, schieben dich sachte zur Tür und lassen dich da stehen mit dem Schlüssel in der Hand. Das ist große, zuweilen fast schmerzhaft schöne Popmusik, die das Leben und die Menschen ernst nimmt, aus Alltäglichkeiten das Drama unserer Existenz schält und neuerdings immer einen Ausweg bereithält: den radikalen Neuanfang, die Flucht in ein neues Leben, so als Idee …
Warum jedoch das vielleicht schon wieder beste Niels-Frevert-Album aller Zeiten ausgerechnet Pseudopoesie heißt, ist eine dieser Frevert- Fragen, mit der wir uns einen Zopf drehen können. Ist es der dritte Teil einer P-Trilogie, die aus den Alben Paradies der gefälschten Dinge, Putzlicht und Pseudopoesie besteht? Meint das Pseudo die Zweifel des Dichters an seinen Texten? Oder ist es so eine Art Meta-Mittelfinger an den Mainstream? Wie auch immer: Dieses an sich interessante Wort wirkt etwas deplatziert auf diesem Album, schmälert den Genuss desselben aber in keiner Weise.
“Der Blick ist weit und die Sehnsucht groß / Und jeder Morgen ein neuer Versuch“ Träume hören nicht auf bei Tagesanbruch
Er sei „eigentlich auch ein ganz normaler alle dreieinhalb Jahre neues Album Typ“, sagt er selber. Es sei denn, es gibt eine harte Krise, dann dauert es schon mal eine halbe Dekade. Pseudopoesie erscheint 3,5 Jahre nach seinem Vorgänger – ein Hinweis. Außerdem wollte Frevert möglichst schnell wieder auf Tour. Und sein neuer Produzent Tim Tautorat ist auf Zack – verliert keine Zeit, liebt das Risiko und spielt Streicherarrangements einfach mal selbst ein. So kam es, dass Pseudopoesie in nur sechs Wochen entstand – die kürzeste Albumproduktionsphase seit dem Frevert-Debüt von 1997.